Ukraine

Gewerkschaftsarbeit unter
Kriegsbedingungen

Aus der Sicherheit zurück nach Kiew, um mit Kolleg*innen zu helfen

Ukrainerin Olena Liung (45) ist überzeugte Gewerkschafterin.

Foto: Olena Liung

Die Ukrainerin Olena Liung (45) ist überzeugte Gewerkschafterin und flüchtete wie viele andere Frauen im Frühjahr vor dem Krieg aus ihrem Heimatland. Aufnahme fanden sie und ihre Mutter bei ihrer Freundin Lyudmyla Volynets, die in der Hauptverwaltung der IGBCE in Hannover arbeitet. Nach wie vor herrscht Krieg in der Ukraine und die russischen Streitkräfte setzen die Angriffe fort. Dennoch kehrte Olena Liung, Assistentin eines ukrainischen Gewerkschaftsvorsitzenden, nach Kiew zurück, um die selbstorganisierten Gewerkschaften weiter aufzubauen.

Für IMPULS schildern sie und ihre Kollegin Olesia Briazgunova, internationale Gewerkschaftssekretärin und Mitglied des KVPU-Ausschusses für Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte, unter welchen Bedingungen sie leben und arbeiten.

Olena, wie geht es Dir in einem Land, das sich im Krieg befindet?

Olena: Wenn man in Kiew ankommt, gibt es nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick, außer ein paar äußeren Merkmalen – Panzersperren in der Stadt, Wahrzeichen sind mit Sandsäcken bedeckt, um eine schwere Zerstörung zu verhindern, Wohnungsfenster sind überklebt.

Die Bewohner*innen der Stadt passen sich an ein ungewöhnliches Leben unter Kriegsbedingungen an: Verkürzte Öffnungszeiten der öffentlichen Verkehrsmittel, frühere Schließung von Lebensmittelgeschäften, Apotheken usw., damit die Beschäftigten vor Beginn der Ausgangssperre nach Hause kommen können.

Fast täglich wird die Nachtruhe durch die laute Fliegeralarmsirene gestört, damit Menschen Schutz oder einen relativ sicheren Platz in der Wohnung suchen können.

Russlands Krieg zerstörte unser alltägliches Leben in der Ukraine, zerstörte die Träume und Pläne der Menschen, zerstörte Häuser, nahm Arbeitsplätze weg, zwang Frauen und Kinder zur Flucht in andere Städte und Länder, nahm das Leben von Kindern und brachte jeder ukrainischen Familie Leid.

Panzersperren in der Stadt

Foto: Olena Liung

Was waren die ausschlaggebenden Gründe für Deine Entscheidung wieder in die Ukraine zurückzukehren?

Olena: Der einfache Wunsch nach Hause zurückzukehren, in mein Heimatland, um meine Verwandten und Kolleg*innen zu treffen. Mein Haus wurde nicht angegriffen, und ich habe eine Wohnung. Ich habe einen Job.

Viele Menschen verlieren wegen des Krieges ihr Zuhause und ihre Arbeit. Wenn sie feststellen, dass ihre Stadt relativ sicher ist, kehren sie nach Hause zurück und versuchen andere Menschen und ihr Land zu unterstützen, um Russland so schnell wie möglich aus der unabhängigen Ukraine zu vertreiben.

Ich werde immer dankbar sein für die Hilfe, die meiner Mutter und mir zu Teil wurde. Danke an unsere deutschen Freund*innen Ludmila Volynets, Markus Köpp und seiner Frau Linda Tornow sowie dem ganzen IGBCE-Team.

„Wir leisten humanitäre Hilfe für Binnenvertriebene und Zivilisten in vom Krieg betroffenen Städten und achten besonders auf die Bedürfnisse von Frauen und Müttern mit Kindern.“

Olena Liung

Wie sieht Dein Arbeitsalltag als Gewerkschafterin derzeit aus?

Olena: Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit darauf, Gewerkschaftsmitgliedern und Zivilist*innen in kriegszerrütteten Städten jede mögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Außerdem ist es mir wichtig von Gewerkschaftsseite alles zu tun, um der Ukraine zu helfen diesen schrecklichen Krieg zu gewinnen und Frieden in die Ukraine zu bringen.

Auf dem Weg zu meiner Arbeit in die KVPU-Zentrale ertönen häufig die Sirenen, die uns vor Luftangriffen russischer Streitkräfte warnen. Wir machen uns Sorgen um unsere Schwestern und Brüder aus verschiedenen Städten, die angegriffen werden oder als Soldat*innen für die Unabhängigkeit kämpfen. Es ist sehr schmerzlich, wenn wir vom Tod unserer Kolleg*innen erfahren.

Der KVPU-Ausschuss für Gleichstellung und Frauenrechte und das Frauenaktivistinnen-Netzwerk arbeiten daran, weiblichen Mitgliedern zu helfen, ihre Rechte zu schützen und ihre Interessen auf regionaler und lokaler Ebene zu vertreten.

Während des Krieges bieten alle elf KVPU-Zweigorganisationen (11 Organisationen) weiterhin Rechtsdienstleistungen für weibliche Mitglieder an und unterstützen alle Frauen, die Hilfe benötigen, nicht nur unsere Mitglieder. Beispielsweise organisierte die Unabhängige Gewerkschaft der Bergleute der Ukraine (75 % der Mitglieder sind Männer) die Evakuierung von Bergleuten, Familienmitgliedern und Zivilisten, von denen die Mehrheit Frauen waren, aus Städten und Gemeinden in der Region Donezk.

Wir leisten humanitäre Hilfe für Binnenvertriebene und Zivilisten in vom Krieg betroffenen Städten und achten besonders auf die Bedürfnisse von Frauen und Müttern mit Kindern, beispielsweise bei der Versorgung mit Hygieneartikeln, Kleidung und Babynahrung.

Wir möchten unseren Kolleg*innen der Gewerkschaften und internationalen Partnern für die finanzielle und humanitäre Hilfe und die schnelle Reaktion danken. Insbesondere möchten wir erwähnen, dass das Gewerkschaftsnetzwerk für Frauen in Europa uns hilft, viele Probleme für geflüchtete Frauen zu lösen und mehr Hilfe für Frauen und Kinder in der Ukraine zu sammeln.

Olesia, was beobachtest Du als Mitglied des KVPU-Komitees für Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte, bezogen auf die Situation von Frauen in der Ukraine?

Olesia: Die Situation der Frauen in der Ukraine hat sich stark verschlechtert, wegen des Krieges mussten sie flüchten, viele von ihnen verloren ihr Zuhause und ihre Arbeit. Es ist schrecklich, dass Frauen in der Ukraine von russischen Soldaten sexuell missbraucht und getötet wurden.

Jeden Tag werden Raketenangriffe von Russland auf die Ukraine geflogen. Viele Frauen arbeiten unter Lebensgefahr, da es nicht immer möglich ist, rechtzeitig Schutz zu suchen. Die KVPU versorgt Krankenhäuser, weil sie von russischen Truppen zerstört wurden oder es an Medikamenten mangelt. Zum Beispiel haben wir vor einer Woche der Entbindungsklinik mit Laptops ausgeholfen.

Ein weiteres Thema ist die Situation von Frauen in den vorübergehend besetzten Gebieten, in denen ein hohes Risiko besteht, Opfer von Gewalt zu werden.

Diese Frauen verlieren ihre Lebensgrundlage. Es ist sehr schwierig ihnen zu helfen, weil es gefährlich ist, humanitäre Hilfe zu leisten. Beim Verlassen der besetzten Gebiete müssen sie von Russland infiltrierte Gebiete passieren, in denen die Gefahr besteht, verhaftet zu werden oder dass sie von ihren Kindern getrennt und diese nach Russland gebracht werden.

Durch den Krieg sind vor allem auch Arbeitsplätze betroffen, in denen Frauen beschäftigt waren, beispielsweise im Handel, Dienstleistungen, Hotellerie und Tourismus. Gleichzeitig sind auch viele Industriebetriebe von Zerstörung betroffen, in denen auch Frauen gearbeitet haben.

Panzersperren / Schutzmaßnahmen in Kiew

Foto: Olena Liung

Viele Frauen haben die Ukraine verlassen. Wie macht sich das in Deinem Arbeitsalltag bemerkbar?

Olesia: Mit der Unterstützung unserer Schwestergewerkschaften konnten wir ukrainische Geflüchtete dabei unterstützen in anderen Ländern zu arbeiten.

Die Frauen, die jetzt geflüchtet sind, sind dankbar für die Möglichkeit, an einem sicheren Ort bleiben zu können. Aber gleichzeitig baten sie uns um Hilfe bei der Unterbringung und medizinischen Versorgung. Die geflüchteten Frauen brauchen vor allem auch Arbeit. Besonders schwierig ist es für Frauen mit Kindern eine Beschäftigung zu finden.

Viele Frauen, die gut ausgebildet sind und in ihre Karriere investiert haben, sind nun gezwungen in Tätigkeiten für Un- und Angelernte zu arbeiten. Das ist eine zusätzliche Belastung für sie, weil ihre Anstrengungen und erworbenen Fähigkeiten entwertet werden.

Es ist wichtig, dass wir Gewerkschaften alles tun, damit die Situation der Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt nicht ausgenutzt wird. Notwendige Informationen über Beschäftigung, offizielle Arbeitsvermittlungsstellen, Kontakte in Notfällen müssen zur Verfügung gestellt werden, um Menschenhandel und informelle Beschäftigung mit Verletzung von Arbeitsrechten zu vermeiden.

Welche gleichstellungspolitischen Forderungen stehen für Dich ganz oben in der Priorität? Sind Gleichstellungsfragen angesichts des Krieges und der Not in den Hintergrund gerückt?

Olesia: Nein, gleichstellungspolitische Fragen haben in Umfang der Aufgaben und Herausforderungen noch zugenommen. Aufgrund des Krieges haben unsere weiblichen Mitglieder ihre Arbeit, ihr Einkommen und ihr Zuhause verloren und benötigen dringend Unterstützung. Die, die noch arbeiten, benötigen möglicherweise auch humanitäre Hilfe aufgrund von Versorgungsengpässen.

Ganz oben stehen nach wie vor Gleichstellung in Beschäftigung und Entlohnung. Vor fünf Monaten haben Frauen gearbeitet und Pläne geschmiedet, aber jetzt können sie in einigen Städten und Gemeinden keine Lebensmittel oder Hygieneartikel kaufen, weil es an Vorräten mangelt und die Preise steigen. Die KVPU lieferte ihnen solche Produkte, hilft bei der Wohnungssuche und berät nicht nur in arbeitsrechtlichen Fragen, sondern zum Beispiel auch zu Fragen der Sozialversicherung, Dokumentenbearbeitung, wenn eine Wohnung zerstört wird, wenn der Ehemann Soldat war und getötet wurde.

„Viele Frauen, die gut ausgebildet sind und in ihre Karriere investiert haben, sind nun gezwungen in Tätigkeiten für Un- und Angelernte zu arbeiten. Das ist eine zusätzliche Belastung für sie, weil ihre Anstrengungen und erworbenen Fähigkeiten entwertet werden.“

Olesia Briazgunova

Was ist wichtig für die Zukunft Deiner Arbeit und die Deiner Gewerkschaft?

Olesia: Es ist wichtig, das Leben und die Arbeitsplätze der Arbeiter*innen zu retten. Und natürlich ist es entscheidend, Russland aufzuhalten, diesen illegalen Krieg zu beenden und die territoriale Integrität und den Frieden in der Ukraine wiederherzustellen.

Wir arbeiten hart daran unsere Arbeit weiter auszuführen und die Arbeitnehmer*innenrechte zu schützen.

Die unabhängigen Gewerkschaften haben nur eine Finanzquelle, die Mitgliedsbeiträge. Sie haben kein Eigentum. Seit Beginn der russischen Invasion verwenden unsere Gewerkschaften ihre Finanzen, um Mitgliedern, Zivilisten, medizinischem Personal und Soldaten zu helfen.

Gleichzeitig hilft uns die globale Solidarität und Hilfe unserer Gewerkschaftsbrüder und -schwestern zu arbeiten und den Menschen in der Ukraine zu helfen.
Wir sind dankbar für diese Unterstützung, die für unsere Mitglieder lebenswichtig ist. Je länger der Krieg jedoch andauert, desto länger werden ukrainische Arbeiternehmer*innen und Gewerkschaften helfen und Hilfe brauchen.